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Foto: Matthias Friel
"Renaissance" ist ein gängiger Begriff und leicht dahingesagt: Renaissance der Antike, Renaissance des guten Benehmens, Renaissance der Schlaghose. Was ist das aber genau, wenn etwas plötzlich 'wiederkommt'? Wo ist es gewesen und warum erscheint es gerade jetzt? War es inzwischen inexistent oder nur abgesunken bzw. verdrängt? Ist es 'Wiedergeburt' oder 'Wiedergängerei', ist es ein späteres "Nachleben" (Aby Warburg) oder ein subkutanes "Überleben"? Gibt es jemanden, der es zu bestimmten Zwecken hervorholt, oder bricht es sich selbst Bahn?
Diese Grundfragen lassen sich nicht nur für die Kunst in Italien um 1400 stellen, ganz abgesehen davon, dass man ja auch schon von einer "karolingischen" (um 800) und "ottonischen" (um 1000) Renaissance spricht. Byzanz dagegen hatte nie eine Renaissance, weil die Antike dort ja ununterbrochen bis 1453 andauerte. Und mit der italienischen, dann aber auch französischen, deutschen oder polnischen Renaissance ist ja keineswegs Schluss, auch die Renaissance selbst kommt später wieder: mit "Renaissancismus" um 1900 bezeichnet man tatsächlich eine "Renaissance der Renaissance". Und im Jahre 2015 treffen sich die Regierungschefs Italiens und Deutschlands in Florenz, lassen sich vor dem gigantischen "David" Michelangelos ablichten und vereinbaren eine "Politik aus dem Geiste der Renaissance".
Das Seminar versucht hier zunächst einmal die vielfältigen Aspekte zu sichten und zu klassifizieren. Möglicherweise lassen sich hier Thesen aufstellen über die tieferen Bewegkräfte des geschichtlichen Wandels schlechthin. Vor allem aber dürfte hier die Chance liegen, das gängige Geschichtsmodell von fortschrittsorientierten "Zäsuren" einmal in Frage zu stellen: "Renaissance" im engeren Sinne gilt ja immer positiv als "Überwindung" des "finsteren" Mittelalters. Man sah hier eine produktive "Wende" (Peuckert, Blumenberg, Greenblatt), löst sich in dieser Phase doch etwas Neues mit geradezu revolutionärem Impetus von etwas Altem im Rückgriff auf etwas noch Älteres. Man zeichnete gerne ein Bild von lange angestauten Ungereimtheiten und Irrtümern, die jetzt bereinigt würden: donnernde Hammerschläge an Kirchentore suggerieren Revolution und grundstürzende Veränderungen im Sinne von "Fortschritt" und "Vernunft". Ein "Wellental" (Scherer) scheint überwunden, nach "Krisen" (Hasard 1939) und "Herbst" (Huizinga 1924) schimmert nun endlich "Morgenrot" (Pflugk-Harttung 1921). Dagegen stünde jedoch schon der Pluralismus der Meinungen in der Vormoderne selbst, der tatsächlich ein großes Spektrum abdeckt zwischen eher konservativen Positionen (renovatio, instauratio, restitutio, restauratio: das aktuelle Italien als alleiniger Nachfolger Roms in Sprache und Kultur) oder den freieren und eher produktiven Distanznahmen gegenüber der Antike, die man unter neuen Bedingungen in den jeweiligen europäischen Territorien auch neu interpretiert (translatio, reformatio, regeneratio): "Christiani sunt qui Romani non sunt", so Martin Luther. Auch hier unternimmt es das Seminar, einen exemplarischen Überblick über die verschiedenen kulturgeschichtlichen Theorien zu gewinnen.
Vor allem aber konzentriert sich die Betrachtung dann tatsächlich auf den Zeitraum zwischen 1400 und 1600: Die Renaissance, für die auch parallele Begriffe wie "Frühe Neuzeit", "Reformation" oder "Humanismus" im Umlauf sind, prägt zweifellos die Moderne. Sie ist eine "Inkubationszeit" (Münch 1984), in der sich die uns gewohnten Größen und Werte wie "Individualismus", "Humanität" oder "Glaubensfreiheit" erst herausbilden, in der es wirtschaftliche (Bankhäuser) und technisch-mediale Veränderungen (Buchdruck) gibt, in der sich aber auch Kolonialismus, absolutistisches Staatswesen und Hexenverfolgung ausbreiten. Ein Grundproblem der Epoche bleibt etwa die begeisterte Bezugnahme auf die Antike und damit auf eine heidnische Vorbildepoche, was unweigerlich Konflikte mit dem christlichen Glauben nach sich ziehen muss. Wie verträgt sich etwa eine äußerst sinnliche Venus mit dem Keuscheits- bzw. Ehe-Ideal der Kirche? Mit allen Komponenten von "Verdrängung" bleibt dies durchaus eine dauerhafte Frage, die noch im 20. Jahrhundert in Literatur (bspw. William Carlos Williams' Roman "A voyage to pagany", 1928) oder Film (Billy Wilders "The seven year Itch, 1955) verhandelt werden sollte.
Anhand ausgewählter Objekte aus Kunst und Literatur der Zeit, anhand von Selbstbewertungen und wissenschaftlichen Theorien sollen dann die genannten Aspekte diskutiert und in eine praktikable Ordnung gebracht werden. Ziel dabei ist eine vertiefte Kenntnis der Kulturgeschichte der Vormoderne, aber auch die ihrer jeweiligen Wiederkehr und Funktionalisierung in späteren Zeiten, stets im Blick auf Literatur, Kunst, Theologie und Psychologie. Wichtig für die zu erwerbende wissenschaftliche Praxis erscheint dabei auch die begriffsgeschichtliche Perspektive: was bedeutet "Renaissance" konkret in den wechselnden Definitionen von Jakob Burkhardt (1860) bis Stephen Greenblatt (2011/2013)? Voraussetzung für die Teilnahme ist daher die Bereitschaft, sich auch mit manchmal durchaus abstrakten und theoretischen Positionen zu beschäftigen.
Zur orientierenden Lektüre (in Auswahl)
Benz, Richard: Die Renaissance. Das Verhängnis der deutschen Cultur. Jena 1915
Blumenberg, Hans: Die Kopernikanische Wende. Frankfurt/M. 1965.
Greenblatt, Stephen: Die Wende. Wie die Renaissance begann. Deutsch: München 2013. (The swerve. How the world became modern. 2011)
Hazard, Paul: Die Krise des europäischen Geistes. Hamburg 1939.
Huizinga, Johann: Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und den Niederlanden. München 1924.
Im Morgenrot der Reformation. Hrsg. Julius von Pflugk-Harttung (u.a.) Hersfeld 1921.
Ladwig, Perdita: Das Renaissancebild deutscher Historiker 1898-1933. Frankfurt/M. 2004. NB 43002013 LAD
Münch, Paul: Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit. Texte und Dokumente zur Entstehung der bürgerlichen Tugenden. München 1984, S. 15.
Peuckert, Will-Erich: Die große Wende. Das apokalytische saeculum und Luther. Hamburg 1948.
Renaissancen. Hrsg. Lorenz Engell, Bernhard Siegert, Joseph Vogl. München 2010.
Uekermann, Gerd: Renaissancismus und fin de siecle. Berlin New York 1985.
Voraussetzung für die Teilnahme ist die Bereitschaft, sich auch mit manchmal durchaus abstrakten und theoretischen Positionen zu beschäftigen.
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