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Foto: Matthias Friel
Ein mächtiger Konsens in der Geschichte der Rezeption von Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770-1831) Denken besagt, Hegels Philosophie sei systematisch nicht in der Lage, das Problem und die genauen Relationen von Differenz zu denken. Sucht man nach einem „dezidierten” Begriff und Verständnis von Differenz, also nach einem philosophischen Weg, die unableitbare Andersheit und Verschiedenheit von etwas gegenüber etwas zu denken, dann – so die Kritik – stößt man unter Hegelschen Bedingungen niemals zu einer solchen Figur vor. Hegel habe, so sagt man, ein Denken des "Widerspruchs", der "Vermittlung" und der "Negativität" entfaltet, in dem Andersheit stets nur als das Andere von Etwas firmieren kann: Das wahre Selbst erlangt seine Identität mit sich, seine Wahrheit, allererst im Durchgang durch „das Andere seiner selbst”, das es selbst ist. Diese Logik binde die Dimension von Differenz unentrinnbar zurück an ein Denken, dem es im Wesentlichen und in letzter Instanz immer um die Form der Identität gehe: Differenz im radikalen/dezidierten Sinne sei aber, so hat man gegen Hegel eingewandt, etwas ganz anderes als das Negative, und sie gehe auch nicht in dem auf, was bei Hegel „Widerspruch” heißt. Deshalb sei es philosophisch an der Zeit, mit dem Projekt der (bei Hegel: spekulativen) Dialektik insgesamt zu brechen: Ein Denken, das Differenz als solche zu denken beansprucht, muss sie aus dem Paradigma von Negativität, Vermittlung und Widerspruch evakuieren. Eben dieser Gestus steht im Hintergrund des Wahlspruchs von Gilles Deleuze, wonach wir (bei Deleuze: im Jahr 1968) in Zeiten eines „verallgemeinerten Anti-Hegelianismus” lebten und dass dies auch gut so sei.
Dieses Seminar soll den Versuch machen, diese Sichtweise auf Hegel auf den Prüfstein zu stellen: Wie stichhaltig ist eigentlich die Einschätzung, es sei systematisch unmöglich, mit Hegelschen Mitteln den Ort und die Rolle von Differenz zu denken? Was spricht für eine solche Lektüre und wo liegen ggf. ihre Grenzen? Dabei organisiert sich der Kurs in zwei Halbzeiten: Die erste Hälfte des Semesters soll mit einer geduldigen (aber sicher auch fordernden) Klärung der gedanklichen Bewegung zugebracht werden, in der Hegel (im zweiten Kapitel des ersten Abschnitts seiner „Wesenslogik”, die ihrerseits den zweiten Teil seiner „Wissenschaft der Logik” von 1812/13 ausmacht) die sog. „Reflexionsbestimmungen” des „absoluten Unterschieds ”, der „Verschiedenheit” des „Gegensatzes”, der „Negation” und des „Widerspruchs” expliziert. Diese Klarstellung setzt einen grundlegenden Blick auf das, was Hegel in der „Wissenschaft der Logik” überhaupt zu zeigen beansprucht hat, voraus. Die zweite Halbzeit des Semesters wird sich dann einigen ausgewählten Stimmen insbesondere aus der französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts zuwenden, zwischen denen – pro und contra – die Frage ausgehandelt worden ist, ob und inwiefern die Hegelsche Dialektik „Differenz zu denken” vermag oder nicht vielmehr qua Widerspruch eliminiert. Hier soll sich das Interesse exemplarisch auf die Beiträge von Jean Hyppolite (1907-1968), Gilles Deleuze (1925-1995) und Jacques Derrida (1930-2004) legen. Nicht vollkommen ausgeschlossen sind, wenn der Zeitplan des Seminars sie erlaubt, Seitenblicke auf Martin Heidegger („Identität und Differenz”, 1955) sowie auf Theodor W. Adorno („Negative Dialektik”, 1966).
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