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Foto: Matthias Friel
„Gewalt“ ist ein kontextbedingtes Phänomen, das definitorisch kaum auf einen Nenner zu bringen ist. Gewaltphänomene sind gesellschaftlich und historisch gesehen so vielfältig und spezifisch, dass jede Fixierung auf einheitliche Theorien oder Forschungsparadigmen unpassend erscheint. Gewalt lässt sich weder allgemein, also im Hinblick auf alle möglichen relevanten Aspekte, noch unabhängig von ihrer konkreten Einbettung in ein soziales Geschehen begreifen. Ebenso wenig sind die Vorgänge, die Forschende als Gewalt bezeichnen, unabhängig davon zu bestimmen, welches Verhältnis sie selbst zu diesem Geschehen haben. In der Forschung und Theoriearbeit zu Gewalt gibt es zudem die Tendenz, spektakuläre Ereignisse zu untersuchen, die öffentliche Aufmerksamkeit erregen oder in der kollektiven Erinnerung einen festen, wenn auch oftmals umstrittenen Platz haben.
In unserer Lehrforschung möchten wir uns dagegen mit Phänomenen befassen, die wir vorläufig und in einer ersten Annäherung als „Alltagsgewalt“ bezeichnen möchten. Unser Augenmerk soll auf gewaltsamen Geschehnissen liegen, die
(a) für die Beteiligten Alltag sind, weil sie, ohne besonderes Interesse von „Umstehenden“ zu erwecken, recht regelmäßig passieren (z.B. verfestigte Formen häuslicher Gewalt);
(b) aus Sicht der beteiligten Personen nicht ihren persönlichen Alltag bestimmen, aber insofern „gesellschaftlicher Alltag“ sind, als sie sich ständig, aber ebenfalls ohne nennenswerte öffentliche Resonanz ereignen (z.B. ein „Betatschen“ im Club bis hin zu Vergewaltigungen, Kneipenschlägereien, ...);
(c) – etwas quer zu a) und b) liegend – sich in einer Form ereignen, bei der die Beteiligten miteinander ringen, ob es sich bei ihrem Kontakt um einen gewaltsamen handelt (z.B. die Kissenschlacht, die immer mal wieder momenthaft aus dem Ruder läuft; der Boxkampf, bei dem der Ringrichter einschreitet, usw.).
Die Lehrforschung zielt dabei auf ein „Theorizing“ ab, das heißt auf das gemeinsame (interpretative) Arbeiten daran, was es heißen kann und wie sich erklären lässt, dass gewaltsame Vorgänge alltäglich sind – und welche Konsequenzen sich daraus nicht nur für das (sozial-)wissenschaftliche, sondern auch für das öffentliche Sprechen über Gewalt ergeben. Das Konzept des „Theorizing“ geht zurück auf Richard Swedberg, der im Anschluss an Charles S. Peirce dafür plädiert, die Fixierung auf „Theorie“ durch eine stärkere Aufmerksamkeit für den Prozess des „Theoretisierens“ abzulösen. Im Gegensatz zur Theoriearbeit im klassischen Sinne, bei der üblicherweise die Geltungsbegründung (logic of justification) im Zentrum steht, verschiebt das „Theorizing“ die Aufmerksamkeit von der Produktion von Theorie hin zur Reflexion von Methoden und heuristischen Strategien, wodurch der konkrete Entdeckungskontext wissenschaftlicher Einsichten in den Fokus gerückt wird (logic of discovery). Ein Kernanliegen der Lehrforschung besteht vor diesem Hintergrund darin, diesen Entdeckungskontext für eigene Forschungsvorhaben fruchtbar zu machen. Die Teilnehmenden führen dafür eigene Gewaltanalysen im Sinne eines „Theorizing Violence“ durch.
Das Lehrforschungsprojekt ist auf zwei Semester angelegt (Wintersemester 2021/22 und Sommersemester 2022). Am Ende der Vorlesungszeit des ersten gemeinsamen Semesters sollen alle Teilnehmenden ein Forschungsdesign erarbeitet haben, um ihr Projekt anschließend schrittweise umsetzen zu können. Didaktisch ist die Lehrforschung sowohl als intensiver Arbeits- und Beratungskontext für eigene Forschungsarbeiten angelegt als auch als Lektüreseminar und Schreibwerkstatt. Dabei werden wir uns immer wieder auch mit empirischen Materialien zu historischen und aktuellen Gewaltereignissen auseinandersetzen.
Becker, H.S., 2021: Soziologische Tricks. Wie wir über Forschung nachdenken können. Hamburg: Hamburger Edition. (Leseprobe: https://www.hamburger-edition.de/index.php?id=206)
Breidenstein, G., S. Hirschauer, H. Kalthoff & B. Nieswand, 2020: Ethnografie. Die Praxis der Feldforschung. Stuttgart: UTB.
Hartmann, E. & T. Hoebel, 2020: Die Schweigsamkeit der Gewalt durchbrechen. WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 17: 71–79.
Hoebel, T. & W. Knöbl, 2019: Gewalt erklären! Plädoyer für eine entdeckende Prozesssoziologie. Hamburg: Hamburger Edition.
Przyborski, A. & M. Wohlrab-Sahr, 2014: Qualitative Sozialforschung: Ein Arbeitsbuch. München: Oldenbourg Verlag.
Swedberg, R., 2016: Before Theory Comes Theorizing or How to Make Social Science More Interesting. The British Journal of Sociology 67: 5–22.
Das Seminar findet im Rahmen des Moduls „Soziologische Theorie“ im Masterstudiengang Soziologie der Universität Potsdam statt und beginnt am Freitag, den 05.11.2021, mit einer Einführungssitzung von 14-18 Uhr. Das Seminar ist als Hybrid-Veranstaltung konzipiert, für das sowohl Präsenzveranstaltungen als auch Online-Sitzungen vorgesehen sind. Die Entscheidung, ob eine geplante Präsenzveranstaltung tatsächlich durchgeführt werden kann, ist von der jeweiligen epidemiologischen Lage und den entsprechenden Vorgaben der Universitätsverwaltung abhängig. Daher kann diese Entscheidung jeweils erst wenige Tage vor der entsprechenden Sitzung bekannt gegeben werden und wird im Falle einer Absage alternativ als Online-Sitzung abgehalten.
Das Seminarprogramm sieht insgesamt sechs Sitzungstermine vor, die wie folgt angesetzt sind:
1. 05.11.21 – 14-18 Uhr (Präsenz)
2. 12.11.21 – 10-14 Uhr (Online)
3. 26.11.21 – 10-14 Uhr (Online)
4. 17.12.21 – 12-18 Uhr (Präsenz)
5. 14.01.22 – 10-12 Uhr (Online)
6. 11.02.22 – 12-18 Uhr (Präsenz)
Die Literatur zu den einzelnen Sitzungen sowie die im Programm angegebene weiterführende Literatur wird Ihnen über BoxUP zur Verfügung gestellt.
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