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Foto: Matthias Friel

Migrationsliteratur und Nationalphilologie. Traditionen und Perspektiven der Germanistik - Einzelansicht

Veranstaltungsart Seminar Veranstaltungsnummer
SWS 2 Semester SoSe 2019
Einrichtung Institut für Germanistik   Sprache deutsch
Weitere Links Kommentar
Belegungsfrist 01.04.2019 - 20.05.2019

Belegung über PULS
Gruppe 1:
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    Tag Zeit Rhythmus Dauer Raum Lehrperson Ausfall-/Ausweichtermine Max. Teilnehmer/-innen
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Seminar Sa 10:00 bis 14:00 14-täglich 13.04.2019 bis 20.07.2019  1.12.1.01 PD Dr. Keller   40
Kommentar

Nominal entkommt die Germanistik nicht der permanenten Forderung, doch bitte zu erklären, was denn das „Germanische“ sei, das ihren Gegenstand ausmache. Mit dem gängigen Versuch, sich durch die Spezifizierung auf das „Deutsche“ aus der Affäre zu ziehen, erwachsen jedoch sofort weitere unlösbare Probleme, nunmehr im großen Sumpf der „Wesensbestimmung“. 2017 fragte Dieter Borchmeyer konkret „Was ist deutsch?“ und legte als Antwort eine allenfalls historisch resümierende „Suche einer Nation nach sich selbst“ vor. Vorgeblich präzise oder gar objektive Kategorien wie Sprache, Kunst und Kultur führen eben so wenig zu substantieller Klärung wie Gebürtigkeit, Staatsgebiet oder Verfassung. Eine entsprechende „Nationalphilologie“ gilt nicht nur als verstaubt, sondern als beschränkt und überwunden. Neue, ganz bewußt auf trennende Grenzziehungen zwischen Sprachen und Kulturen verzichtende Methodenansätze in der Komparatistik und Kulturwissenschaft beziehen sich auf ausgesprochene Transferphänomene wie Interlingualität, Intermedialität oder Interreligiosität. Die fachgeschichtliche Bilanz zeigt aber durchaus, daß hier schon längst entsprechende Modelle und Theorien vorlagen. Johann Gottfried Herder spricht vom „unsichtbaren commercium der Geister“ ohne jede nationale Beschränkung und die Brüder Grimm geben mit dem Tripel von der (deutschen) Sprache, Literatur und den Rechtsaltertümern ein denkbar breites und flexibel füllbares Kategoriensystem vor, das völlig neutral und gleichrangig mit den Entsprechungen jeder beliebig anderen Kulturformation bzw. im Austausch mit dieser untersucht werden kann. Vor allem aber war es jedem ohne Ansehen seiner Herkunft freigestellt, an einer „deutschen“ Kultur beliebig mitzuwirken, wollte er sich in die entsprechenden Diskursformationen begeben. Jakob Grimm versuchte 1848 diese Position sogar als Art. 1 an der Spitze der „Grundrechte des deutschen Volkes“ zu verankern: „Das deutsche Volk ist ein Volk von Freien und deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Fremde Unfreie, die auf ihm verweilen, macht er frei.“

Abgesehen von der transnationalen und monolingualen Praxis eines ständig kommunizierenden Kulturpluralismus im Europa des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, ist spätestens seit Adalbert von Chamisso auch die Herausforderung bekannt, deutschsprachige Beiträge von nicht im einem deutschen Staatsgebiet geborenen, nicht seit Jahrhunderten von deutschen Ureltern abstammenden und die deutsche Sprache vielleicht auch nicht vom ersten Wiegenschrei an nutzenden Persönlichkeiten einer wissenschaftlichen Betrachtung zu unterziehen und damit auch der „Nationalphilologie“ zu genügen. Dennoch wurden und werden entsprechende Werke bis in die Gegenwart als „nicht-deutsch“ entwertet oder allenfalls als exotisches Kuriosum („Nischenliteratur“) am Rande des großen Kanons betrachtet. Lange operierte man mit hilflosen Begrifflichkeiten wie „Gastarbeiterliteratur“, „Ausländerliteratur“ oder eben „Migrationsliteratur“, bis mit Zafer Senocaks Vorschlag der „Brückenliteratur“ (1986) auch im deutschsprachigen Raum eine Sensibilität für die Eigentümlichkeiten der „Transnationalität“ oder für das Schreiben in "Zwischenräumen" einsetzte. Die internationale Forschung konnte im Zuge der postkolonialen Theorie bereits längst über angemessene Termini und Methoden verfügen, die etwa auf Homi Bhabhas Vorstellungen von einer produktiven „Hybridität“ zurückgingen. Anstelle asymmetrischer Kulturkontakte, polarer oder hermetischer Alteritätsmodelle oder gar rigoros abwertender Hierarchien wählte man neue Denkmuster wie das „Rhizom“, den „Dritten Raum“ oder die „Kontaktzone“ als Gelegenheit für ein paritätisches „Aushandeln“.

Seit mehreren Generationen wächst nunmehr bereits eine reiche Fülle von deutschsprachigen Texten als Fundus für entsprechende Untersuchungen: Werke von May Ayim, Maureen Maisha Eggers, Manuel Castells, Emine Sevgi Özdamar, Irena Brezna, Libuse Monikova, Aglaja Veteranyis, Abini Zöllner, Senait Mehari, Senthuran Varatharajah, Catalin Dorian Florescu, Franco Biondi, Herta Müller, Saša Stanišic, Lena Gorelik, Wladimir Kaminer, Feridun Zaimoglu, Yadé Kara, Rafik Shami, Sudabeh Mohafez, Navid Kermani, Bassam Tibi, Galsan Tschinag, Usama Al Shahmani, Asfa-Wossen Asserate, Yoko Tawada u. v. a. bieten jeweils auf eigene Weise eine fundierte Anschauung und höchst ansprechende Formen der poetischen Kunst, von der knappen Sentenz bis zur voluminösen Abhandlung. Alle diese Werke wären danach zu befragen, was nun genau im „Labyrinth der Herkunft“ (Franco Biondi) geschieht, wie ein "Einwandererkind wie ich" (Navid Kermani) mit seinem "ungläubige[n] Staunen" gegenüber dem so vertrauten wie fremden „Anderen“ umgeht. Die Autorinnen und Autoren offerieren hier neue und jeweils völlig singuläre Betrachtungs- und Vergleichsweisen, die sich gegen eine feste identifizierende Verbundenheit mit einer einzelnen Nation, Religion oder Herkunftsregion wenden. Vielmehr nutzen sie ihre transkulturellen Bewegungsmöglichkeiten und Kompetenzen, suchen temporäre Anschlüsse und erproben damit vielerlei mögliche, nach allen Seiten jeweils offene oder gar wechselnde Identitäten. Als „deutsche“ Besucher in der "Fremde" haben sie durch ihre Herkunft immer auch den Blick des damit ja bereits Vertrauten, weshalb sich eine starre Opposition oder gar Konfrontation zwischen schroffen bilateralen Sphären zugunsten "hybrider" Wahrnehmungsmuster auflöst. Und bezeichnenderweise reagieren auch ‚nicht-migrantische‘ (horribile dictu: biodeutsche) Autorinnen und Autoren auf die vielfältig diskutierten Fragen, so dass auch hier die Offenheit der Grenzen und Zugänge erkennbar ist: Jenny Erpenbeck („Gehen, ging, gegangen“, 2015) oder Bodo Kirchhoff („ Widerfahrnis“, 2016) legen entsprechende Werke vor.

Hier gilt es die gesamte Fachgeschichte der Germanistik und deren Angebote an Methoden, Theorien und Strömungen seit Herder und den Brüdern Grimm kritisch zu konsultieren. Schließlich gab es neben nationalistischen Positionen immer auch schon komparatistische Modelle, eine aufmerksame Stereo- und Imagotypenforschung, auch eine „auslandsdeutsche Literatur“ oder eine sog. „Auslandsgermanistik“ mit sehr wertvollen Beiträgen. Bekannt sind die Werke deutscher Exilanten in der Welt und deutscher Flüchtlinge aus Deutschland, die in Deutschland zu integrieren waren. Begriffe (Migration, Integration, Inkorporation, Identifikation) haben selbst eine Geschichte, ebenso wie die Orientierung schaffenden gedanklichen Kategorien (Nation, Religion, Generation, Person, Muttersprache, Heimat, westliches Denken, Patriotismus, Nationalismus, Rassismus, Fundamentalismus, Fanatismus, Verfassungspatriotismus und Leitkultur).

Die historischen Betrachtungen und die Ergebnisse einer exemplarischen Textlektüre sollen schließlich in eine Seminardiskussion darüber münden, was nationale Literaturgeschichtsschreibung noch leisten kann und wo vor dem Hintergrund der postkolonialen Forschungen, der neo-religiösen Debatten und gesellschaftlichen Verschiebungen, ganz abgesehen von den medialen Metamorphosen der Kommunikation, auch für die Germanistik mögliche Neuorientierungen angebracht sein könnten.

Voraussetzung für die Teilnahme ist neben der verbindlichen Übernahme eines Referats die Bereitschaft, auch größere Textmengen aus dem theoretischen, methodischen und gegenwartsliterarischen Bereich in einem Semester zu bewältigen.


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Keine Einordnung ins Vorlesungsverzeichnis vorhanden. Veranstaltung ist aus dem Semester SoSe 2019 , Aktuelles Semester: SoSe 2024