PULS
Foto: Matthias Friel
Die Vorlesung geht vom Thema der ‚Neuen Welt‘ auf unterschiedlichen Ebenen aus. Der Begriff hat eine erkenntnistheoretische Dimension in dem Sinne, dass es uns kaum möglich ist, über die Geschichte der Amerikas zu sprechen, ohne die Einteilung in eine präkolumbinische Phase und eine Phase nach 1492 vorzunehmen, d. h. immer von dem Moment aus zu denken, indem Amerika als ‚Neue Welt‘ der ‚Alten Welt‘ gegenübergestellt wurde. Darüber hinaus ist das ‚Neue‘ der ‚Neuen Welt‘ bezeichnend, da ihre ‚Entdeckung‘ in einer Reihe mit Ereignissen wie der Erfindung des Buchdrucks und der Reformation als einer der Auslöser oder Beschleuniger für die Entstehung der Neuzeit genannt wurde. Das ‚Neu‘ der ‚Neuen Welt‘ sowie der Neuzeit ist auch deswegen signifikant, weil im Laufe der geschichtlichen Entwicklung eben hier eine Aufwertung der Kategorie des Neuen begann, die erst im 18. Jahrhundert ihren Abschluss finden sollte. Hans Blumenberg hat darüber hinaus festgestellt, dass Amerika im Zuge der sukzessiven Herausbildung neuzeitlicher Subjektivität als absolute Metapher für das noch nicht Sagbare verwendet wurde. Das moderne Subjekt, das es begrifflich eigentlich noch nicht gab, wurde bildlich vorgezeichnet, indem die wachsende Verfügbarkeit der Welt metaphorisch mit den großen noch zu erschließenden Ländern des amerikanischen Kontinents verglichen wurde. Kolumbus, der bekanntermaßen bis zu seinem Lebensende überzeugt war, Indien erreicht zu haben, ahnte die Größe der vor ihm liegenden Landmassen, als er auf die Wucht aufmerksam wurde, mit der das Süßwasser aus den Flussmündungen in den Atlantik drang. In diesem Zusammenhang sprach er bereits von einem otro mundo und belegt die semantisch nun verfügbaren Länder sofort mit einem ideellen Angebot — der Rede vom irdischen Paradies. In dieser Traditionslinie werden die Amerikas bis heute als Raum betrachtet, in dem nicht nur ein individuelles Glücksversprechen eingelöst werden kann, sondern auch gemeinschaftlich utopische Ideen, beispielsweise als Siedlungsprojekte (von den jesuitischen Reduktionen bis zu finsteren Orten wie der Colonia Dignidad), konkret ihren Ort finden können. Diese Tradition ist allerdings Teil einer Gewaltgeschichte, denn die semantische Offenheit des amerikanischen Kontinents ist auf einem zweifachen kulturellen Kahlschlag gegründet, einerseits durch die Auslöschung indigener Zivilisationen und andererseits durch die Ansiedlung ihrem ehemaligen kulturellen Kontext entrissener Sklaven. Diese Verbindung von semantischer Offenheit und Gewalt schreibt sich bis in die Gegenwart fort. Vor diesem Hintergrund geht die Vorlesung semantischen Kontinuitäten von den Chroniken der frühen Kolonialzeit, über die europäische Aufklärung und Romantik, über die Unabhängigkeit der amerikanischen Staaten bis in die aktuelle lateinamerikanische Literatur nach.
(Auswahl)Blumenberg, Hans (2013): Paradigmen zu einer Metaphorologie. Kommentar von Anselm Haverkamp unter Mitarbeit von Dirk Mende und Mariele Nientied. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.Bitterli, Urs (1982): Die »Wilden« und die »Zivilisierten«: Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.– (1991): Die Entdeckung Amerikas von Kolumbus bis Alexander von Humboldt. München: Verlag C. H. Beck.– (1992): Alte Welt – Neue Welt: Formen des europäisch-überseeischen Kulturkontakts vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.Carpentier, Alejo (1998): El arpa y la sombra. Madrid: Alianza Editorial.Ette, Ottmar (2022): Erfunden / Gefunden. Potsdamer Vorlesung zur Entstehung Amerikas. Berlin: De Gruyter.Gewecke, Frauke (1992): Wie die neue Welt in die alte kam. München: Deutscher Taschenbuchverlag.Humboldt, Alexander von (2009): Kritische Untersuchung zur historischen Entwicklung der geographischen Kenntnisse von der Neuen Welt und den Fortschritten der nautischen Astronomie im 15. und 16. Jahrhundert. Mit dem Geographischen und physischen Atlas der Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents Alexander von Humboldts sowie dem Unsichtbaren Atlas der von ihm untersuchten Kartenwerke. Nach der Übersetzung von Julius Ludwig Ideler ediert und mit einem Nachwort versehen von Ottmar Ette. Frankfurt am Main: Insel Verlag.Mignolo, Walter D. (2005): The idea of Latin America. Malden: Blackwell.O’Gorman, Edmundo (1995): La invención de América: Investigación acerca de la estructura histórica del nuevo mundo y del sentido de su devenir. México D. F.: Fondo de cultura económica.Rinke, Stefan (2013): Kolumbus und der Tag von Guanahani. 1492: Ein Wendepunkt der Geschichte. Regensburg u. a.: Theiss.Todorov Tzvetan (1982): La conquête de l'Amérique. La question de l'autre. Paris: Éditions du Seuils.Valdivia Orozco, Pablo (2013): Weltenvielfalt: Eine romantheoretische Studie im Ausgang von Gabriel García Márquez, Sandra Cisneros und Roberto Bolaño. Berlin / Boston: Walter de Gruyter.Villas Bôas, Luciana (2017): Wilde Beschriftungen: Brasiliens historische Semantik in der frühen Neuzeit. Würzburg: Königshausen & Neumann.
Bzgl. des Erwerbs von Leistungspunkten konsultieren Sie bitte die Ordnung ihres Studiengangs.
© Copyright HISHochschul-Informations-System eG