PULS
Foto: Matthias Friel
Die in Italien, Frankreich, Spanien und Portugal entstandenen großen Erzählwerke der Frühen Neuzeit bauen aufeinander auf und lassen sich deshalb erst in ihrer Vernetzung als Gesamtphänomen verstehen. Aus der humanistischen Kultur der großen italienischen Renaissance-Höfe von Florenz und Ferrara entstehen die Ritterepen von Luigi Pulci (Il Morgante, 1478) und Matteo Maria Boiardo (Orlando innamorato, 1483), die ihre Weiterentwicklung in Ludovico Ariostos Orlando furioso (erste Fassung 1516, letztgültige Fassung 1532) erfahren, einem Meisterwerk der Ironie und Persiflage des Ritterromans, das später auch Cervantes’ Don Quijote (erster Teil 1605, zweiter Teil 1615) beeinflussen sollte. Der Roman Ariostos lässt sich als ein Kaleidoskop des Wissens und Selbstgefühls seiner Zeit lesen. Ein weiteres Beispiel von Groteskkomik bildet Rabelais’ Romanzyklus Gargantua et Pantagruel (5 Bde., 1532-1564). Bereits der Orlando furioso enthält ein reichhaltiges Reservoir für ein geographisches Imaginaire: Weltreise und Mondreise stellen zentrale Knotenpunkte des Epos dar und zeugen von dem Wunsch des Renaissance-Menschen, den Kosmos zu erforschen und zu beherrschen. Einen Schritt weiter als Ariosto geht Rabelais, der das Potential des für die Renaissance typischen Interesses an Topographie, Kartographie und Kosmographie sowie der Entdeckung neuer Erdteile auf unnachahmliche Weise in seinen Romantexten fiktionalisiert. Eine Antwort auf Rabelais bilden Os Lusíadas (1572) von Luís de Camões, worin die großen Eroberungs- und Entdeckungsreisen der Portugiesen, insbesondere des Seefahrers Vasco da Gama (1469–1524), zelebriert werden.
Von Ariosto zu Cervantes ergibt sich ein Spannungsbogen von der Hochrenaissance zum Siglo de Oro mit Rückblicken auf die Tradition der Phantastik des italienischen Ritterromans des Quattrocento. Die Unsicherheit in den Kenntnissen über die Neue Welt, die zumeist auf dem Hörensagen beruhen, führt von Ariosto zu Rabelais zu Mythenbildung und parodistischer Inszenierung. Die Entdeckungen provozieren eine Neuausrichtung des Blicks nach Westen, die bis zur Schwelle des 21. Jahrhunderts andauern sollte, nachdem das Mittelalter geostet war.
Siehe entsprechende Studienordnungen.
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