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Foto: Matthias Friel
Lange Zeit wurden die altnordischen Bearbeitungen der Geschichte von Sigurd und den Niflungen für die Urform des Stoffs gehalten, der auch dem mittelhochdeutschen Nibelungenlied zugrundeliegt. Von dieser Sichtweise ist man angesichts der schwierigen Überlieferungsgeschichte sowie markanter Unterschiede in den deutschen und skandinavischen Erzählungen von den Nibelungen inzwischen abgerückt. Lohnender ist es, beide Traditionsstränge als alternative Varianten mit kulturspezifischen Eigenheiten in der Stoffdeutung und der poetischen Gestaltung zu betrachten. Im Seminar sollen daher die vermutlich ältesten altnordischen Bearbeitungen, die zum Niflungen-Zyklus gehörigen Lieder der Älteren Edda, gelesen und zunächst in Form eines Close Reading erschlossen werden. Dabei wird es darum gehen, die literarischen Deutungsmuster von Identität und Heldentum, Freundschafts- und Liebesbündnissen, Herrschaft, Verwandtschaft und Konfliktbewältigung, aber auch die spezifisch poetischen Sprechweisen mitsamt ihrer anspielungsreichen Bildlichkeit zu erfassen. Von besonderem Interesse sind mythische Denkfiguren und Darstellungsformen, wie sie sich beispielsweise in der Geschichte des verfluchten Drachenhorts manifestieren. Auch die Widersprüche und Leerstellen in den teilweise miteinander konkurrierenden Gestaltungen des Stoffs in der Edda-Lieder sowie Formen nachträglicher Kohärenzbildung werden Gegenstand der Seminardiskussion sein.
Spätere Abschnitte des Seminars beschäftigen sich auf dieser Grundlage mit einem Vergleich der altnordischen und der mittelhochdeutschen Nibelungen-Konstellation. Vertiefte Kenntnisse des Nibelungenliedes werden nicht vorausgesetzt, doch ist eine kursorische Lektüre des Textes sinnvoll und wünschenswert. Empfehlen möchte ich weiterhin die begleitende Lektüre der Völsunga saga, die als Prosa-Erweiterung der Edda-Lieder eine romanhafte Gesamtdarstellung bietet. Da die einschlägige Forschungsliteratur vorwiegend in englischer Sprache zugänglich ist, sind außerdem gute Englischkenntnisse wünschenswert.
Zur vorbereitenden und begleitenden Lektüre:
1. Nibelungenlied
Zum Einstieg ist die unter folgendem Link verfügbare Zusammenfassung nützlich: https://www.uni-due.de/~hg0222/images/stories/pdfs/zusammenfassung_des_nibelungenliedes.pdf
Zweisprachige Ausgabe: Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch Nach der Handschrift B hrsg. v. Ursula Schulze; ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse. Reclam, Stuttgart 2001.
Empfohlene Sekundärliteratur zum Nibelungenlied: Jan-Dirk Müller: Das Nibelungenlied. 3., neu bearbeitete und erweiterte Auflage. (= Klassiker Lektüren 5) Berlin 2009.
2. Völsunga saga
Thule. Altnordische Dichtung und Prosa, Bd. 21: Isländische Heldenromane. Hrsg. v. Felix Niedner und Gustav Neckel. Übertragen von Paul Herrmann. Jena 1923 [ND 1965], S. 37-136.
Als PDF-Datei verfügbar unter: http://www.nibelungenrezeption.de/literatur/quellen/Geschichte%20von%20den%20Voelsungen.pdf
Textgrundlage zur Anschaffung: Die Heldenlieder der Älteren Edda. Übersetzt, kommentiert u. hrsg. v. Arnulf Krause. Reclam, Stuttgart 2001.
(Bitte lesen Sie ausschließlich diese Übersetzung! Ältere Übersetzungen sind im Internet verfügbar, doch weichen sie stark von den Originaltexten ab und sind stellenweise fehlerhaft.)
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