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Foto: Matthias Friel

Lexikographie als Schlüssel zur Kultur der Frühen Neuzeit: Formen und Erträge der analogen wie digitalen Datenaufbereitung - Einzelansicht

Veranstaltungsart Seminar Veranstaltungsnummer
SWS 2 Semester WiSe 2019/20
Einrichtung Institut für Germanistik   Sprache deutsch
Weitere Links Kommentar
Belegungsfrist 01.10.2019 - 20.11.2019

Belegung über PULS
Gruppe 1:
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    Tag Zeit Rhythmus Dauer Raum Lehrperson Ausfall-/Ausweichtermine Max. Teilnehmer/-innen
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Seminar Fr 16:00 bis 18:00 wöchentlich 18.10.2019 bis 07.02.2020  1.12.1.01 PD Dr. Keller 27.12.2019: Akademische Weihnachtsferien
03.01.2020: Akademische Weihnachtsferien
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Kommentar

Renaissance (der Antike) – Reformation (der Kirche) – Revolution (der Medien, trad. „Erfindung des Buchdrucks“): drei beliebte Abfragevokabeln zur Frühen Neuzeit. Hier aber lauert die Gefahr aller Schlagwörter: obwohl sie durchaus richtige Sachverhalte bezeichnen, blockieren sie in ihrer semantischen Zuspitzung einen differenzierteren Blick auf die faktische Überlieferung. Die entsprechende „Verzeichnung“ der Epoche in den Nachschlagewerken zementiert dies nicht nur, sondern schwächt zudem noch die Position der Philologie: entstammen die genannten Begriffe doch ausschließlich fremden Disziplinen, nämlich der Kunstwissenschaft, der Theologie und der Technikgeschichte. Literatur, Sprache und Bildung bleiben als Sachbereiche dagegen völlig ausgespart, obwohl sie ihrerseits als maßgebliche Träger der historischen Dynamisierung wirkten. Weitere semantische Reduktionen verdunkeln das Bild: „Die“ Renaissance als Antikenrezeption ist in Wahrheit ein vielschichtiger Plural, da es keineswegs nur eine einzige Antike gegeben hat, ganz abgesehen davon, dass auch das sog. Mittelalter die Antike stets mehrfach und sehr lebhaft in Anspruch genommen hat. Auch „die“ Reformation gab es nie, sondern eine Fülle von komplex geschichteten Brüchen in der Kirchen- und Frömmigkeitsgeschichte, so dass man in inzwischen längst von „Konfessionalisierung“ spricht. Und die eindrucksheischende Metapher eines schlagartigen Umsturzes durch eine einzelne technische Erfindung verkennt die ursächliche Beteiligung aller anderen Medien an den Veränderungen: Flugblatt, Predigt, Theater und Oper, Zeitungen und Zeremonialwesen sowie die Emblematik (ganz abgesehen von zahlreichen optischen bzw. akustischen Apparaten wie camera obscursa oder Mikroskop) bedingen einzeln und vor allem in ihrem Zusammenwirken als Intermedialität den Beginn der „Moderne“.

Soll man den genannten Termini also besser nicht trauen? Zumindest nicht ohne eine kritische Betrachtung deren eigener Geschichte und ihrer spezifischen ideologischen Aufladung. Man könnte aber auch umgekehrt fragen: welche Worte und Begriffe benutzt eigentlich die Frühe Neuzeit selbst, um sich zu charakterisieren, um etwa das ihr eigene Weltbild zu formulieren? Die Sprache, mit der sich die Frühe Neuzeit ein Bild von der Welt macht, ist keineswegs mehr die Sprache, mit der sich die später Geborenen ein Bild über die Frühe Neuzeit machen, die sich mit ihrer Sprache ein Bild von der Welt macht. Selbstbild und Fremdbild sind hier sorgsam zu trennen, Begriffe und Worte sorgsam zu prüfen, ihre Inhalte und Formen, aber auch ihr Wandel und ihre Verwendung. Vor 400 Jahren existierten Worte, die wir nicht mehr kennen geschweige denn verstehen oder die damals eine völlig andere Bedeutung hatten. Andere dagegen existierten noch gar nicht. Will man also die sprachlichen Dokumente der Zeit verstehen, um aus ihnen die Gründe für das situationsbedingte Handeln der Zeitgenossen zu beziehen, das schließlich zu „Renaissancen“, „Reformationen“ und „Revolutionen“ führte, ist eine aufwendige Übersetzungsleistung nötig, die ohne entsprechende Hilfsmittel kaum durchführbar ist. Diese Hilfsmittel aber erarbeiten spezialisierte Grundlagendisziplinen, neben der Wort-, Ideen- und Begriffsgeschichte vor allem die praktische historische Lexikographie. Letztere schöpft aus den entsprechenden Quellen, Untersuchungen und Ergebnissen nuancierte semantische, morphologische und etymologische Informationen und verzeichnet die Ergebnisse leicht zugänglich in analogen wie digitalen Wörterbüchern, Lexika und Enzyklopädien. Damit stehen wertvolle Instrumentarien für die Arbeit mit frühneuzeitlichen Texten zur Verfügung, mit denen die Suche nach authentischen Informationen über die Epoche auf sicheren Fundamenten steht. Ohne diese Instrumentarien aber ist keine seriöse Forschung möglich.

Das Seminar wird ohne die Notwendigkeit besonderer Vorkenntnisse verschiedene dieser Hilfsmittel vorstellen, ihre Theorie und Praxis diskutieren und sogleich am Material, an ausgewählten Textbeispielen aus der Frühen Neuzeit, ausprobieren. Die Sprache als Medium steht hierbei im Vordergrund, denn es sind die umfassenden Sprachprozesse zwischen 1400 und 1700, die bis in unsere Gegenwart ihre Wirkung entfalten: Antikenrezeption heißt in diesem Sinne die gezielte Verbesserung der germanischen Einzelsprachen bzw. deren räumlich gebundener Phänotypen durch eine behutsame Latinisierung bzw. eine Optimierung im Wettbewerb mit der durchaus animierenden Neolatinität. Reformation heißt durch Übersetzung kanonischer Texte (Bibel) und persönliche Religionserfahrung in der Muttersprache (Mystik, Gebet, Lieder) eine literaturfähige Nationalsprache aus den lokal breit gestreuten Ressourcen der jeweiligen Alltagssprache zu generieren, während der Buchdruck vor allem für die verbindende und verbindliche Norm einer ausgleichenden Hochsprache „über“ den zahllosen Varietäten des Nieder- und Norddeutschen, Mittel- und Oberdeutschen in den Regionen sorgt. Hier liegen die neuralgischen Punkte für die Entwicklung der Wissensformationen eines nunmehr umfassenden deutschen Sprachraums und damit die Voraussetzungen für Moderne, für politische Nation und kulturelles Selbstverständnis. Im Zentrum wird daher das „Frühneuhochdeutsche Wörterbuch“ stehen, ein bedeutungsgeschichtliches Grundlagenwerk, das für alle historiografischen Disziplinen den Zugang zu den lexikalisch gebundenen Vorstellungswelten der Frühmoderne ermöglicht. In Ergänzung werden auch begriffs-, personen- und ortsgebundene Nachschlagewerke betrachtet.

Unausweichlich stellt sich die Frage, wie die digitale Transformation mit den genannten Phänomenen umgeht. Die Verschlagwortung bzw. die lexikalische Auszeichnung zwecks automatischer Auffindbarkeit von Worteinheiten gilt als das praktische Basisverfahren der digitalisierten Geisteswissenschaften schlechthin. Klassifizierung bzw. normative Erkennbarkeit sind im Blick auf machine learning aber notwendig auch mit der Reduktion einer naturgemäß eher unsystematischen Überlieferungsvielfalt verbunden. Ein diffuses, widerständiges oder einfach gestaltoffenes Phänomen aus der Originalzeit muß aber in einer digitale Zeichenfolge transformiert, d.h. mit ausgewählten und damit reduzierenden Markierungen zwecks einer gewünschten algorithmischen Wiederauffindbarkeit versehen werden. Digital Humanities in ihrer populistischen Spielart gehen nicht selten effektorientiert eher sorglos mit den überlieferten Vorgaben um und neigen gerne dazu, Profile, Brüche und Oberflächen zu ignorieren oder gar einzuebnen, um schneller vorzeigbare Ergebnissen zu erzielen. Mit vorschnellen und methodisch kaum reflektierten Festlegungen bestimmter Konnexionen, Bezüge und Merkmalbündel werden Zusammenhänge erzeugt, die das System ermöglicht oder fordert, die aber historisch nicht belegt sind. Die Gefahr besteht, daß hier eine für den nicht in der Frühen Neuzeit sozialisierten Benutzer diffus erscheinende Dokumentenlage „passend“ gemacht und in eine „berechenbare“ Ordnung versetzt wird. Anspruchsvolle DH mit hochgradig reflektierten framing- und Kontextanalysen bzw. radial ausgedehnten Metadatenerhebungen als Sicherung historischer Differenz führen dagegen zu beeindruckenden und weiterführenden Angeboten. Deshalb bleibt der Diskussionspunkt: Wie kann der Austausch zwischen geistesgeschichtlicher Forschung und datentechnischer Aufbereitung der Ergebnisse zwecks qualitativer statt quantitativer Optimierung der Erkenntnis gestaltet werden?

Das Seminar hat mehrere Ziele im Blick: das Instrumentarium für den eigenen Umgang mit einer Epoche ist zu verbessern, die historische Sachkenntnis entsprechend zu schärfen, vorhandene aber unbekannte Hilfsmittel sind an die Hand zu geben, um über Epochenklischees und erkenntnistilgende Schlagworte hinaus zu gelangen. Bekannt zu machen ist mit den Möglichkeiten, das Profil der Epoche schärfer zu zeichnen, und Gelehrsamkeit bzw. Sprach-, Literatur- und Wissensgeschichte als wesentliche, d.h. dynamisierende Bestandteile der Vormoderne zu bestimmen. Schließlich aber gilt es auch Aspekte und Anregungen für eigene Projekte oder Abschlussarbeiten zu gewinnen.


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Keine Einordnung ins Vorlesungsverzeichnis vorhanden. Veranstaltung ist aus dem Semester WiSe 2019/20 , Aktuelles Semester: SoSe 2024