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Foto: Matthias Friel
Vom Gießener Mediävisten Peter Moraw stammt die Aussage: „Das spätmittelalterliche Reich [war] zwar kein Staat, aber auch kein Nicht-Staat.“ Die Kriterien des Staatsrechtlers Georg Jellinek (1900), wonach der Staat ein soziales Gebilde mit drei wesentlichen Elemente „Staatsgebiet“ (mit Staatsgrenzen), „Staatsvolk“ und „Staatsgewalt“ sei, erfüllte das Heilige Römische Reich nämlich gerade nicht: Eine Reichshauptstadt, eine verbindliche Verfassung, ein einheitlicher Untertanenverband, ein staatliches Gewaltmonopol, ein stehendes Reichsheer, eine unbestrittene Exekutive, eine nennenswerte Bürokratie, eine effektiv eingetriebene Reichssteuer, ja noch nicht einmal eine konkurrenzlos agierende Reichsgerichtsbarkeit – all dies, was moderne Staatlichkeit ausmachte, fehlte. Die meisten, für früh zentralisierte westeuropäische Nationalstaaten so typischen Herrschaftsrechte mußte der Kaiser gemeinsam mit den Reichsständen – klassisch hier die Formel von „Kaiser und Reich“ – ausüben, die sich auf den seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert allmählich ausbildenden Reichstagen als Vertreter der „teutschen“ Nation verstanden. Auf die Frage nach einer zentralisierten Staatsgewalt im Alten Reich muß daher immer wieder auf die mächtigen weltlichen und geistlichen Landesherrn verwiesen werden. Zu diesen zählten freilich auch die seit dem 15. Jahrhundert (meist) habsburgischen Kaiser, die aber innerhalb des Verfassungsgefüges quasi lediglich Primus inter pares waren – mit zeremoniellem Vorrang und Prärogativrechten freilich, sonst aber nichts. Dieser uneindeutige, zuweilen auch schlicht archaische Charakter machte schon den zeitgenössischen Reichspublizisten zu schaffen. Der Staatsrechtler Samuel von Pufendorf etwa kapitulierte geradezu in seinem Werk über die „Verfassung des deutschen Reiches“ („De statu imperii Germanici“, 1667) bei der Beschreibung des Charakters des Alten Reiches: Es sei „irregulär und einem Monstrum ähnlicher Gestalt“ (irregulare aliquod corpus et monstro simile), weil es sich weder mit den antiken Staatsformen nach Aristoteles, noch mit den zeitgenössischen Souveränitätstheorien erklären lasse. Im Seminar werden die durch den Dualismus zwischen dem Reichsoberhaupt und den Reichsständen – klassisch durch die Formel von „Kaiser und Reich“ – geprägten Reichsgrundgesetze gelesen und interpretiert: der Reichsabschied von Worms (1495), der Augsburger Religionsfrieden (1555), der Westfälische Frieden (1648) und der Reichsdeputationshauptschluß (1803).
Aufgrund der aktuellen Situation wird die Lehrveranstaltung zunächst mit ausführlicher Quellen- und Literaturlektüre beginnen. Konkrete Planungen sind vor Semesterbeginn schwierig, zumal nicht abzusehen ist, wann und ob überhaupt die Präsenzlehre in diesem Semester beginnt.
Arno Buschmann (Hg.), Kaiser und Reich. Klassische Texte zur Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation vom Beginn des 12. Jahrhunderts bis zum Jahre 1806, München 1984. Weitere Literatur wird im Seminar genannt.
regelmäßige, aktive Teilnahme; kleinere Essays; ggf. Seminarleitung; Hausarbeit.
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