PULS
Foto: Matthias Friel
Der 24. Februar 2022 wird in die Geschichte als Zäsur eingehen. Die Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine für die europäische und globale politische Ordnung lassen sich gegenwärtig noch schwer einschätzen, dagegen wird es heute immer offenkundiger, dass der Krieg von einer jahrelang unterschätzen geschichtspolitisch neoimperialen, populistischen Staatspropaganda in Putins Russland ideologisch von langer Hand vorbereitet war.
Als Kriegspropaganda treibt jene Ideologie ihr Verwirrspiel mit dem immer lauter und virulenter werdenden Argument von der „Entnazifizierung“ der Ukraine als Ziel der russischen „Spezialoperation“ auf die Spitze. Der Historiker Timothy Snyder lokalisiert das Auftreten einer neuen „Variante des Faschismus, die man Schizofaschismus nennen könnte“ in Russland um 2014: „Faktische Faschisten nennen ihre Gegner ‚Faschisten‘“ (Snyder 2018: 153). Lew Rubinstein, Dichter, Vertreter der ehemals inoffiziellen Kulturszene und scharfsinniger Kolumnist, spricht heute von einem „Krieg der Sprache“, in dem Begriffe wie „Nazismus“ und „Faschismus“ ihre ursprüngliche Bedeutung längst verloren haben und als inhaltsleere rhetorische Überzeugungsfiguren instrumentalisiert werden. Dem russischen Angriffskrieg ging der „Krieg der Sprache“ voraus: „Das russische Volk war immer geteilt in zwei ungleiche Teile. Der eine – der kleinere – bezeichnete hartnäckig Gemeinheiten als Gemeinheiten, Feigheit als Feigheit, Dummheit als Dummheit und Faschismus als Faschismus. Der andere, der größere, war anfällig für die offizielle Rhetorik und bezeichnete Gemeinheiten als Patriotismus, Feigheit als die Notwendigkeit, den Umständen Rechnung zu tragen, eine offene Aggression als Schutz der eigenen Sicherheit, und das Streben von Völkern und Gesellschaften nach Freiheit und Offenheit als Nazismus.“ (Rubinstein in „Echo Moskwy“ am 25.02.2022, zit. nach „dekoder“).
Die integrierte Ringvorlesung nimmt den „Krieg der Sprache“ ins Visier und setzt ihn in den Kontext des jüngeren Nachdenkens über den Faschismus. Spätestens seit dem Erscheinen des viel rezipierten Essays „Der immerwährende Faschismus“ von Umberto Eco (1997) gilt Faschismus als ein politisches Phänomen, das sich nicht auf eine historische Epoche reduzieren lässt, sondern als „Ur-Faschismus“ (so Eco) im politischen Denken der gesamten Moderne immer wieder in unterschiedlichen Varianten auftritt. Sein Ort heute ist das globale Netz der radikalen Rechten, in dem der Autokrat Putin als Anführer anerkannt wird (vgl. Jason Stanley 2022).
Die Ringvorlesung fragt nach faschistischen Merkmalen der heutigen nationalistischen Populismen und Autoritarismen, nimmt ihren Sprachgebrauch unter die Lupe, analysiert die warnenden Stimmen aus den letzten Dekaden und befragt die sensorischen Potenziale von Literatur, Kunst und Publizistik, Faschistisches aufzuspüren und aufzuzeigen. Dabei soll für prototypische Merkmale des Faschistischen sensibilisiert werden, die möglicherweise auch quer zu den üblichen politischen Polarisierungen zwischen links und rechts kursieren.
Madeleine Albright: Faschismus. Eine Warnung. Köln 2018.
Umberto Eco: Der immerwährende Faschismus (1997), in: ders: Vier moralische Schriften. München, Wien 1998, S. 37-69.
Malgorzata Kowalska: Wieczny faszyzm. O kryzysie demokracji i powracaniu upiorów, in: Jacek Koltan, Grzegorz Piotrowski (Hg): Kontrrewolucja u bram, Gdansk 2020, S. 215-235.
Lew Rubinstein: Krieg der Sprache, in: Dekoder, 01.03.2022: https://www.dekoder.org/de/article/krieg-ukraine-krieg-der-sprache-in-russland
Timothy Snyder: Der Weg in die Unfreiheit: Russland, Europa, Amerika. München 2018.
Jason Stanley: How Fascism Works: The Politics of Us and Them. New York 2018.
Jason Stanley: Der Antisemitismus hinter Putins Forderung der „Entnazifizierung” der Ukraine, in: Geschichte der Gegenwart, 9. März 2022: https://geschichtedergegenwart.ch/der-antisemitismus-hinter-putins-forderung-nach-entnazifizierung-der-ukraine/
ein Vortragsprotokoll pro Leistungspunkt
© Copyright HISHochschul-Informations-System eG