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Foto: Matthias Friel
Inhalt: Im mythischen Verständnis ist Venedig als „vollkommen unwahrscheinliche Stadt“ auf dem Wasser zu einem Modell idealtypischer Vorstellungen einer Inselkultur in Literatur, bildender Kunst und Philosophie geworden. Mit dem Philosophen Cacciari sehen wir Venedig als eine aus der Kreativität entstandene künstliche Schöpfung und als solche als eine Stadt an der Grenze des Möglichen, d.h. dem Untergang benachbart. Unser Venedig-Diskurs integriert wesentliche Aspekte aus einer Vielzahl von Einzeldisziplinen – Komparatistische Literaturwissenschaft, Intermedialität, Politik, Geschichte, Ökonomie und Ökologie – in den Rahmen einer philosophischen Fragestellung. Der philosophische Ansatz führt zu einer Komplexitätsreduktion, die die Modellierung eines spezifischen Stadtprofils ermöglicht.
Erst seit die ökologische Bewegung der Verdi in den neunziger Jahren Venedig erreicht hat, beginnt man, an das alte Überlebenswissen der Venezianer wieder anzuknüpfen und sich auf die eigene Überlebenskunst zu besinnen: das ständige Sich-ständig-neu-Entwerfen. Die Vorlesung zeichnet anhand künstlerischer und literarischer Zeugnisse die Etappen der historischen Entwicklung der Stadt nach.
Mit dem politischen Untergang der Republik beginnt Anfang des 19. Jahrhunderts die Ära des literarischen Mythos. Im Rahmen dieses Paradigmenwechsels in der Venedig-Literatur erfährt die Stadt mit dem Beginn der Romantik ihre Metamorphose in das Reich der Phantasie, des Traums und der Irrealität. Dichter, Maler und Musiker haben an dieser Illusion ihren Anteil. Venedig bleibt lange Zeit ein Dispositiv des Bedauerns und der Trauer. In Thomas Manns Novelle Tod in Venedig wird es gar zur Chiffre für die Todessehnsucht stilisiert, aber auch für den Traum von der Schönheit, die sich in die Kunst verströmt.
Marinetti brandmarkt mit einem inszenierten Begräbnis den Anachronismus der sterbenden Stadt, die den Anschluss an die Moderne verpasst hatte. Zeitgleich unternimmt Piero Foscari, ein Nachfahre des berühmten Dogen, den Versuch, der Lagunenstadt wieder zu Glanz zu verhelfen. Seine Pläne und Maßnahmen entpuppten sich im Nachhinein als eine Umweltkatastrophe. Aber erst seit der Sturmflut von 1966 mit der mannshohen Überflutung des Markusplatzes sind die Venezianer und die Zuschauer weltweit in Alarmstimmung geraten. Dann aber entwickelt sich unter Cacciari als Bürgermeister 1993 ein steigendes Umweltbewusstsein, das auch Teile der Bevölkerung für die Probleme sensibilisiert.
In der Literatur hat sich Venedig inzwischen in völliger Ablösung von der Realität in ein Dispositiv der Imagination zur Erzeugung immer neuer Bilder verwandelt.
Das Schicksal Venedigs als Ort des Überlebens bleibt prekär und ungewiß. Seine Schönheit ist dabei, sich zu einer nostalgischen Reminiszenz zu verflüchtigen, in dem Maße, wie sich die Stadt in ein Museum verwandelt und ihre Wahrzeichen in Form von Kopien in alle (neuerdings auch die digitale) Welt, auswandern, womit sie das Original gleichsam überflüssig machen.
Beginn am 25.10.2022.
Siehe entsprechende Studienordnung.
Testat: Klausur
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